- I. Kunst und Schmerz
- II. Der Kunstschmerz
- III. Kunsttherapie
- IV. Herkünfte
- V. Kunstschmerztherapie und Psychotherapie-Theorie
- VI. Der Spiegel der Seele?
- VII. Erlittene und gestaltete Marter
- VIII. Funktionen von Schmerz für die Kunst
- IX. KunstpatientInnen, KunsttherapeutInnen
- X. Betroffenenbedürfnisse
- XI. Kunstpsychologie als Veränderungswissen
- XII. Der Beitrag der Kunstwissenschaft
- XIII. Das Gehirn, die Kunst und die Hypnose
- XIV. Wissen aus den Randzonen
- XV. Eine Hypnotherapie, die von Kunst inspiriert wäre…
- Literatur
I. Kunst und Schmerz
Künstlerische wie Trance-Heil-Rituale sind ursprünglich magische Vorgänge gewesen, und in ihnen hat der Schmerz eine bedeutende Funktion innegehabt. Auch in der Kunstgeschichte spielt der Schmerz eine große Rolle. Eine Verbindung von künstlerischer Arbeit und Trance-Phänomenen zur Schmerztherapie zu nutzen ist also naheliegend und wurde auch schon andiskutiert (Milzner 1999a). Darüberhinaus sind die Schmerzerzeugung im Körper und die Schmerzwahrnehmung nicht denkbar ohne Trance und ohne künstlerisches Potential – ja, man könnte soweit gehen zu behaupten, ein länger andauernder Schmerzzustand sei eine Art Dauertrance und ein Schmerzgefühl ohne körperliches Korrelat eine Art Kunst. Der Titel dieser Arbeit – „Kunstschmerztherapie“ – trägt beidem Rechnung und setzt sich zugleich von der „Kunsttherapie“ insofern ab, als er die Erkrankung selbst als kreatives Geschehen einbezieht und eine Orientierung an psychotherapeutischen Schulen wie der Psychoanalyse oder der Gestalttherapie vermeidet.
Dass Schmerzzustände Trance-Zustände sein sollen, nun, das mag noch hingehen. Jeder Mensch, der einmal längere Zeit unter Schmerzen litt, weiß, dass dabei die Aufmerksamkeit sich kanalisiert, die Weltsicht enger wird, irreale Vorstellungen sich breit machen und das Körpergefühl sich verwandelt – kurz: dass Trance-Phänomene auftauchen. Inwiefern aber sollen Schmerzerzeugung bzw. -wahrnehmung mit Künstlerischem verbunden sein? Diese Frage klingt tatsächlich ein wenig pervers, aber nur solange, wie man nicht länger über sie nachdenkt.
Zunächst einmal hat Schmerz Funktionen von Kunst. Er provoziert, verwirrt, stimmt herab, macht eitel und überheblich, schottet von der Welt ab, vertieft die Weltsicht, usw. Alle diese Effekte sind dabei ziemlich unabhängig davon, ob es sich um Schmerz infolge eines organischen Defekts handelt, oder ob der Schmerz allein im Gehirn „erzeugt“ wurde. Was die Bewertung des Schmerzes in psychologischer Hinsicht angeht, so liegen allerdings Welten zwischen diesen Phänomenen. Ist der Schmerz infolge von Verwundung nämlich mit einem Handwerk zu vergleichen, bei dem auf einen Auftrag (= die Verletzung) hin bestimmte Schritte mehr oder minder kreativ ausgeführt werden (= die Schmerzerzeugung, -weiterleitung und -repräsentation), so ist der Schmerz ohne körperliche Einschränkung eine autonome Tätigkeit frei von jedem Auftrag. Er ist die Folge eines kreativen Prozesses im Gehirn, welcher die Suggestion eines Ereignisses (etwa einer Folter) mit allen dazugehörigen Effekten bewirkt, ohne daß dieses Ereignis aber auch nur annähernd vorhanden wäre. Dies aber, nämlich ein Nicht-hier-Seiendes zu etwas Hier-Seiendem zu machen, ist eine Hauptfunktion von Kunst.
Schmerzleiden ist, um es auf eine griffige Formel zu bringen, Körperkunst kaum weniger als jene, die uns im Verlauf des Textes noch beschäftigen soll. Sie gleicht in ihrer Unbewußtheit jedoch ein wenig der Kunst einer anderen kranken Population, nämlich jener der Psychotiker. Gleichwohl verdient sie jenes Erstaunen und jene Bewunderung, ohne die es schwerfallen dürfte, Schmerzkranken zu helfen. Denn nur dann, wenn wir annähernd ebenso kreativ sind wie jene, die den Schmerz in sich schufen, haben wir Aussichten auf einen Erfolg.