VIII. Funktionen von Schmerz für die Kunst

McKeen (1984) hebt hervor, wie weit die Sklerodermie Paul Klees in seine späten Bilder eingegangen sei, und gesteht damit der Krankheit stilbildende Bedeutung für ein Werk zu. Vom späten Renoir wird gesagt, sein schmerzhaftes Rheumaleiden hätte ihn bestimmt, im Alter vornehmlich üppige Frauenakte zu malen. Dies weist in dieselbe Richtung, auch wenn stärker das Kompensatorische betont wird. (Vielleicht, dass das Erotische den alten Mann von seiner Qual wegführte; vielleicht auch, daß er in rheumatischer Unbeweglichkeit eine Regression erfuhr, aus der heraus der weiche Mutterkörper wieder gesucht wurde.) Ähnlich wie Renoir handelte später die an Arthritis und zerfressener Lunge leidende Niki de Saint Phalle, die weiter jene üppigen, schweren, lebenssatten Leiber schuf, die sie berühmt machten.

Schmerzschicksale können zu Kunstschicksalen werden, dies ist die Lehre, die sich aus Beispielen wie den beiden genannten ziehen läßt. Dabei handelt es sich bereits um mehr als um bloße Schmerzverarbeitung, es geht um Schmerznutzung. In ihrer kleinen Form entspricht sie dem, was Morris (1994) von Georgia O’Keefe festhält: Einen Kopfschmerz, den sie nicht bekämpfen kann, nimmt sie zum Anlaß für eine Zeichnung. In ihrer großen Form entstehen Alterswerke daraus wie bei Klee, Renoir und de Saint Phalle.

Schmerznutzung kann nicht nur in verschiedenem Ausmaß (abhängig davon, ob ein Schmerz einmal oder ständig, heftig oder moderat, zügelbar oder unendlich auftritt), sondern auch auf zweierlei Weisen erfolgen. Entweder sie geschieht als Folge eines durch Krankheit erworbenen, in die Kunst hinein wirkenden Schmerzes wie in den obigen Beispielen. Oder sie verlangt, daß Künstlerin oder Künstler zuvor eine Schmerzsuche hinter sich bringen, wie sie am Beispiel van Goghs vorgeführt wurde. Hier steht dann über die bloße Schmerzerfahrung, die als notwendig angestrebt wird, bereits der Plan im Hintergrund, den Schmerz einem künstlerischen Zweck zu unterwerfen. Auch van Gogh betrieb, wie sein „Selbstbildnis mit abgeschnittenem Ohr“ belegt, neben Schmerzsuche Schmerznutzung. Der Unterschied liegt darin, daß er sich nicht verstümmelte, um sich hinterher malen zu können, sondern daß es seine Form authentischen Selbstprotokollierens war, sich auch beschädigt noch zu porträtieren.

Die erste Form der Schmerznutzung macht neben den genannten diverse Beispiele möglich. So denkt man an Frida Kahlo, die, von der Kinderlähmung und den Folgen eines Verkehrsunfalls gepeinigt, sich selbst im Stützkorsett wiedergab. Auch Caravaggio, der, als Mörder geflohen und auf dem Rückweg nach Rom auf Begnadigung hoffend, vor einer Osteria verletzt wurde, zeigt, wie Schmerz ins Werk aufgenommen werden kann. Auf einem seiner letzten Bilder, „David und Goliath“, verlieh der Maler dem vom Rumpf gehauenen, stierenden Kopf des Riesen seine eigenen Züge. Röttgen (1992) schreibt dazu: „Das abgeschlagene, aber mit brechenden Augen lebend weiterschreiende Haupt des Versündigers gegen Gott, eben des Riesen Goliath, ist zugleich der Kopf Caravaggios, des Gottversuchers, der seine Strafe antizipiert und dem David als letztes narzisstisches Glück für das Opfer einen Blick voller Mitleid zusendet, …“ (S. 79/ 8O).

Die Konfrontation mit dem Schmerz tritt im Werk Caravaggios schon früh auf. Ein Bild zeigt einen von einer Eidechse gebissenen Jungen, der sich selbst als Leidenden entgeistert im Spiegel erkennt. Einige KünstlerInnen der heutigen Zeit gehen in ihrer Schmerznutzung noch einen Schritt über das Spiegeln des Schmerzes hinaus und verweisen damit auf die zweite Form der Schmerznutzung, von der oben gesprochen wurde. Sie besteht darin, den Schmerz gezielt herbeizuführen, um ihn zum Gegenstand eines Werks oder einer Aktion zu machen.

Flatz, österreichischer Körperkünstler, ließ zum Schrecken wie zum Entzücken der Öffentlichkeit Darts-Pfeile auf sich werfen. Eine andere seiner Aktionen bestand darin, sich als lebender Klöppel zwischen zwei Platten hängen und hin- und herschlagen zu lassen. Die Aktionen, so abschreckend sie wirken, demonstrieren doch auch eine Herrschaft über den Schmerz, der nicht mehr als Heimsucher gedacht, sondern gefordert und aktiv gesucht wird. Der Künstler beherrscht den Schmerz, den er sich als Mittel zur Aktion unterwirft.

Flatz kommt mit seinem Kunstverständnis und vor allem mit seinem Verständnis vom Künstler-Sein Otto Ranks oben dargelegten Vorstellungen ziemlich nahe. In Ranks Deutung läsen sich seine Schmerz-Aktionen vermutlich so: Neurotische Erkrankte wie auch Kunstschaffende verbindet, auf den Schmerz nicht verzichten zu können, den der Durchschnittsmensch angstvoll flieht (um sich mit Medikamenten und faulen Kompromissen zu verbarrikadieren). Im Unterschied zu neurotischen Menschen werden KünstlerInnen aber nicht im Leiden stehenbleiben. Vielmehr machen sie durch ihren offenen und herrischen Umgang mit dem Schmerz eine neue Lebensmöglichkeit auf, die darin gipfelt, im körperlich gefühlten Leid ein Stimulans zu sehen, ohne das Leben nicht möglich ist und nicht gewollt wird. Rank, Freund Henry Millers und der mit sadomasochistischen Beziehungen vertrauten Anais Nin hätte, so stelle ich mir vor, Flatz Beifall geklatscht.

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