XIV. Wissen aus den Randzonen
Es bleiben noch einige theoretische Felder anzutippen, die ich bisher unerwähnt ließ, die aber einer Schmerz-Psychotherapie auf der Basis von Kunstwissen assoziierbar wären. Hier sind zunächst Belege der Tierforschung zu nennen. Es existieren, wie mir versierte KollegInnen versicherten, neuere Daten, nach denen Erneuerungen im Gehirn bei Vögeln mit saisonal stark veränderter Lebensweise rascher und häufiger stattfinden als bei solchen mit gleichbleibendem Umfeld. Dies verweist darauf, daß eine von starken Reizen geprägte Lebensführung auch die Bereitschaft des Hirns nach sich zieht, der starken Reizung zu entsprechen. Braucht also ein schmerzproduzierender Organismus womöglich andere, stärkere Kunstreize, die ihm Erneuerung abtrotzen? Sind diese Reize auch hypnotisch vermittelbar? Ist, um ein wenig zu „spinnen“, eine Schmerztherapie denkbar, die in eine Umgebung „ästhetische Schocks“ einbaute, welche zu beschleunigter Veränderung nötigten? Letzteres wäre ohne weiteres hypnotherapeutisch zu bewerkstelligen und würde dabei doch große Effekte erbringen.
Unerwähnt blieben bisher auch Randdisziplinen wie die sogenannte „Color-Therapie“ (vgl. Schiegl 1979), die von einer Heilwirkung der Farbe selbst ausgeht. Ihr zu folgen hieße etwa bei Schmerz blaues Licht auf die betreffende Stelle zu richten, wovon Linderung erwartet wird. Sich anschließende Fragestellungen wären dann die, ob auch die Suggestion blauen Lichts auf der Haut ähnliche Veränderungen hervorriefe, ob sich hieraus selbsthypnotische Modelle ableiten ließen, u.ä.
Ich habe die Color-Therapie nicht diskutiert, weil selbst ein Ritzen schon in Zonen hineinführt, die man nur in größeren Umfang angehen sollte. So folgt die Color-Therapie der Goethe’schen Farbenlehre, was ein vermehrtes Eingehen auf diese erforderlich machte. Auch ist nicht klar, ob die Heilwirkung nur additiv wirkenden (also Lichtfarben), oder auch subtraktiven (Malfarben) zugesprochen wird, was in die Physik hineintriebe. Sie in eine Hypnotherapie zu untegrieren hieße, eine bestimmte Farbe nicht allein aufgrund subjektiver Faktoren für heilsam bzw. schädigend zu erachten, sondern von physikalischen Eigenschaften auszugehen, die unmittelbar Wirkung auf den erlebten Schmerz eines Organismus zeigten. Dies widerspräche energisch Revenstorfs These, wonach der Arbeit mit imaginativen Verfahren vor allem „die prinzipielle Vieldeutigkeit und Wertfreiheit von Bildern zustatten kommt“ (Revenstorf 1985, S. 32). Innere Bilder wären weder „vieldeutig“, noch „wertfrei“, sondern ihre bloße Farbigkeit wäre in der Lage, Schmerz zu provozieren oder zu lindern. Wir könnten so etwa einer Person suggerieren, auf ihren schmerzenden Arm falle intensiv kobaltfarbenes Licht, und ihre Empfindung würde sich – mag sein – verändern.
Nicht einmal angerissen wurde die Frage nach einer möglichen Differenz der Geschlechter bezüglich der Wirkungen von Farbe und Form. Noll Brinckmann (1990), die auch von „männlicher Farbaskese“ spricht, hat diese Fragestellung für den Experimentalfilm erkundet. Wir sind diesem Problem ausgewichen, indem wir anstelle einer Geschlechterdifferenzierung auf die individuellen gegebenheiten verwiesen haben, gnaz nach Ericksons Motto, wonach eine Hypnotherapie immer eine für jeden patienten neu und individuell konzipierte Therapie zu sein habe (vgl. Erickson & Rossi 1981).
Schließlich möchte ich auf ein Modell verweisen, das Müller-Busch (1995) vorstellt und das im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke durchgeführt wird. Es hat den Namen „Schmerzbewältigung durch Erkenntniswandel“ und fußt auf der Vorstellung eines sog. „Gesunden Schmerzkranken“. Künstlerische Therapien werden darin eingesetzt, um erfahrbar zu machen, daß Schmerz als „Bewußtseinsphänomen“ auch positiv gedeutet werden und zu einer eigenständigen Lebenshaltung führen kann, die Aktivität und Kreativität beinhaltet. Was diesen Versuch aber besonders interessant macht ist, daß die einzelnen Formen künstlerischer Betätigung je nach Lage des Falls zugeordnet, d.h. „verschrieben“ werden. Womit die Frage nach einer symptombezogenen künstlerischen Schmerzmedikation wieder im Raum steht, fortlaufend beobachtet und diskutiert werden muß.