VII. Erlittene und gestaltete Marter

Zwei Assoziationen kommen stets außergewöhnlich schnell, wenn von KünstlerInnen und Schmerz die Rede ist. Zum einen ist es die von der Darstellung des Kreuzestodes und der Leiden der MärtyrerInnen in der christlich inspirierten Kunst. Zum anderen ist es die von van Goghs abgeschnittenem Ohr, die, ein Klischee geworden, die Vorstellung von halbverrückten, auf fatale Art schmerzbereiten Kunstschaffenden nährt. Die Assoziationen scheinen Lichtjahre voneinander entfernt zu sein, und doch entsprechen sie, jede auf ihre Art, einem der für die Schmerztherapie wichtigsten Merkmal der bildenden Kunst, der Schmerzsuche.

Schmerzsuche bedeutet, das, was die meisten Menschen am stärksten erschreckt und wovor sie eher als vor allem anderen zu fliehen bereit sind, aktiv an sich heranzuführen. Neben KünstlerInnen wird sie von Heilerinnen und Heilern, sowie von Forschenden betrieben. Schließlich hat sie in religiösen Übungen ihre Funktion. Die Suche nach dem Schmerz erfüllt in allen diesen Fällen einen höheren, jedoch nicht immer bewußten Zweck. So ist die Grenze zwischen dem, was wir „gesunde“ und dem, was wir „krankhafte“ Motive nennen würden, unscharf.

Wie sofort einleuchtet, ist die Schmerzsuche der Maler religiöser Motive von der, die van Gogh betrieb, verschieden. Diese ist eine, die unmittelbar den eigenen Leib betrifft, jene eine, für die man Stellvertreter bemüht. Während diese im einmaligen Zufügen besteht und äußerst krass ist, ermöglicht jene ein vorsichtiges Tasten und Abwägen, auch ein Mildern der Drastik. Übertragen auf die heutige Zeit hätten wir es einmal mit einem Regisseur zu tun, der als Profi blutrünstige Horrorfilme dreht, und einmal mit einem, der wilde Filme noch dadurch steigert, daß er sich selbst verwundet.

Aber macht es wirklich Sinn, eine bezahlte Kunst mit einer Selbstbeschädigung zu vergleichen? Könnte man nicht van Goghs Werk auch ganz unabhängig von seinem Exzess betrachten? Und ist nicht das Malen religiöser Motive meist Auftragsarbeit gewesen, so daß man den Ausführenden am Sujet gar kein wirkliches Interesse zusprechen darf?

In diesen Einwänden stecken zwei Fehler. Der erste besteht darin, das, was ein kunstschaffender Mensch in der Kunst tut, von dem, was er im übrigen Leben tut, zu trennen. Zwar wird diese Unterscheidung von mancher Malerin, von manchem Bildhauer begrüßt. „Das Werk ist wichtig, nicht die Person“, bekommt man zu hören. Schon recht, ich muss von der Person nichts wissen, um das Werk zu würdigen. Doch kann nicht bezweifelt werden, daß das, was als fertiges Produkt zu bewundern ist, aus der Person heraus kam und nur in Verbindung zur Person zu verstehen ist. Eine Radikalität bedingt bei van Gogh die andere. Ein van Gogh, der sich nicht das Ohr abgeschnitten hätte, wäre auch nicht der Maler gewesen, den wir kennen.

Der zweite Fehler besteht darin, im Auftrag für ein Bild auch den Grund für die Art seiner Ausführung zu erblicken. Sicher, mancher Maler, manche Malerin mussten sich an das halten, was sie bekommen konnten. Doch ist die Anzahl abgelehnter Aufträge in der Geschichte der Kunst nicht gering. Viel schwerer noch wiegt, daß auch ein angenommener Auftrag über das Malen der Geißelung Christi wenig nur über die Art und Weise besagt, wie die Geißelung wiedergegeben wird. „Kunst“, schreibt Navratil (1982), „ist eine zustandsspezifische Äußerung und dient einem zustandsspezifischen Kommunikationsbedürfnis bei psychisch Kranken und Gesunden.“ (S. 590).

Das „Wie“ der Ausführung ist natürlich der bei der Schmerzsuche zentrale Punkt. Wie Beispiele zeigen, ist die verhaltene oder die drastische Art, Kreuzigungen darzustellen, ein Erkennungsmerkmal, sozusagen ein Gütesiegel mancher Kunstschaffender gewesen. (So war und ist Andrea Mantegna wegen seiner krassen Einzelheiten – Nagellöcher u.ä. – berühmt.) Jede Darstellung, und werde sie auch noch so distanziert betrieben, beinhaltet Momente, in denen Dargestelltes der Verfassung des Darstellenden entspricht, ohne noch an den Auftrag zu denken. Die erotische Anziehung, die den Maler nach dem Aktmalen zum Sex mit dem Modell anregt, ist ein beleg dafür, wie das Sujet seinem Maler gleichsam „näherrückt“. Somit findet also während der Gestaltung einer Folter eine Auseinandersetzung mit der Folter selbst statt, die entweder dazu nötigt, sie abzuschwächen, indem sie in die Ferne gerückt, von anderen Personen verdeckt oder aber dadurch abgemildert wird, daß die Gemarterten als Entrückte, Vergeistigte wiedergegeben werden, bei denen kein Schmerzensgeheul vorstellbar ist. Oder aber die Darstellung schockiert und man sattelt, was die Drastik angeht, noch drauf, wie es bei den anatomisch unmöglichen Verrenkungen geschah, die gelegentlich den Schächern rechts und links vom Kreuz Jesu zugemutet wurden, um deren Leiden in sadistischer Phantasie zu steigern.

Van Goghs Selbstverstümmelung ist also durchaus Teil seiner Kunst, insofern sie Erfahrungen ermöglichte, die sich im Gemalten spiegeln. (Den Zustand, in dem er sich verstümmelte, bezeichnete er, wie Naeling (1984) angibt, als seinen „Künstlerrappel“. Dies macht noch einmal deutlich, als wie stark seinem künstlerischen Amt anhaftend er die Schmerzsuche empfand.) Ähnlich ist die Leidenszeit eines Schamanen Teil seiner Heilkunst, insofern sie Erfahrungen enthält, ohne die er nicht heilen könnte. Und die Auftragsmalerei, die sich mit Folter und Hinrichtung befaßt (Häuten, Pfählen, Sieden in Öl, um nur einige Beispiele zu nennen) kann nicht ausschließlich als ein Handwerk gesehen werden und als ein Geschäft, das emotionslos betrieben würde. Den Schmerz wollen um der Erfahrung und der Demonstration willen, dies besagt das Beispiel van Goghs. Es liegt eine Bereitschaft zur Überwindung von Angst und zur Grenzüberschreitung darin, die aber ungewöhnlich bleibt selbst unter denen, die sich der Kunst, dem Heilen, der Wissenschaft oder religiöser Prüfung verschrieben haben. Das Beispiel derjenigen, die die Marter zum Sujet nahmen, ist hingegen der normalen Realität näher. Wo van Gogh radikal war, blieben sie tastend und aufs Gesunde bedacht. Van Gogh musste – ähnlich den KünstlerInnen, die mit Drogen experimentieren – damit rechnen, dass seine Schmerzsuche ihn mehr kosten würde, als er davon profitieren könnte. Denjenigen, die Martyrien auf Altären gestalteten, drohte dies nicht. Vielmehr war ihnen die Möglichkeit einer Desensibilisierung im Schaffensprozeß gegeben und eines behutsamen Auslotens von Grenzen, bei dem jederzeit ein Zurück möglich blieb.

Gemeinsames Merkmal aller Schmerzsuchenden ist, dass wer den Schmerz sucht und fordert, ihn zugleich auch beherrscht. Selbst kranke Selbstverstümmeler mögen das Gefühl einer Macht über den Schmerz noch genießen, die darin besteht, ihn sich zufügen, oder ihn sich versagen zu können.

Kategorien: Studien