XIII. Das Gehirn, die Kunst und die Hypnose
Neurobiologen wie Gerald Edelmann oder Francis Crick argumentieren, dass alles Bewußtsein, aller Geist und alles Seelische biologische Grundlagen besitze (vgl. Edelmann 1995 und Crick 1994). Das Gehirn, so eine These von Crick, erstellt die jeweils nützlichste Interpretation von Erfahrungen, die ihm möglich ist. Grundlage der Interpretation sind Menge und Art der Erfahrungen selbst, vor allem der sinnlichen Erfahrungen. Wenn demnach Sinnesreize dazu führen, daß neue neuronale Verschaltungen stattfinden; wenn weiter die jeweils günstigste Interpretation von Erfahrungen der Menge und Qualität dieser neuronalen Verbindungen und Nervenfelder abhängt, dann wird Kunst ebenso wie Hypnose dazu dazu dienen können, neue Interpretationen der Wirklichkeit zu ermöglichen, die auch dem Schmerz eine andere Dimension geben.
Prehn (1993) stellt fest, Erfahrungen wirkten wie ein winziger chirurgischer Eingriff am Gehirn, der wiederum neue Erfahrungen ermöglicht. So wäre, bei Bekanntheit jener Zonen, in denen bestimmte Muster erzeugt werden, die Erzeugung einer inneren Erfahrung, die eine umrissene Veränderung ermöglicht, prinzipiell denkbar, scheitert jedoch zunächst a) daran, daß „wir dazu die „Symphonie des Gehirns“ im Detail verstehen müßten.“, b) daran, dass ein künstlerischer Akt ebenso wie ein hypnotischer Tagtraum eine komplexe Erfahrung ist, welche in Bestandteile und Wirkmöglichkeuten zu zerlegen (noch) schwer möglich erscheint.
Weniger die Erfahrung mit der Außenwelt, als vielmehr interne, im Organismus selbst vorhandene Gesetze sind nach der Theorie von Maturana und Varela (1987) der entscheidende Faktor der Bewußtseinsbildung. Kruse (1996) erläutert in Anlehung an diese Theorie, dass unser altes kognitives Modell, wonach ein Reiz einer Informationsverarbeitung im Gehirn unterzogen werde, kaum länger Gültigkeit besitze. Vielmehr müsse man sehen, dass der Cortex vornehmlich mit sich selbst beschäftigt sei und mit sich selbst Inhalte modifiziere. was bedeutet dies auf den Schmerz bzw. auf den Körper bezogen? Nun, vor allem bedeutet es wohl, daß wir den Körper wieder als „eine Möglichkeit vielfältiger Besetzung“ erleben (Wichelhaus 1996), d.h. als ebensogut mit dem Schmerz wie auch mit anderen Empfindungen und Qualitäten assoziierbar.
Was hier als Vorteil ins Bild rückt – kreative Verwirrung löst negative Besetzungen (zumindest vorübergehend) auf – wäre gefährlich, wo der Zustand des „inneren Kreisens“ erhalten bliebe. Psychose wäre, so Kruse, die Folge. Daß dies nicht geschieht und bei aller Bewegtheit kein Zustand entsteht, in welchem jede Handlungsfähigkeit verlorengeht, verdanken wir dem limbischen System, aus welchem heraus immer wieder mittels Bewertung neu erreichte Zustände gefestigt werden. Auf die künstlerische Arbeit bezogen bedeutet dies, dass jeder kreative Zustand die Chance beinhaltet, einen vorhandenen, schmerzbelasteten zu modifizieren. Dass ihm dies vorübergehend gelingt, steht außer Frage. Ob es ihm auch dauerhaft glückt, dies wird nach dem obigen Modell vor allem davon abhängen, ob, wie und zu welchem Zeitpunkt Bewertungen einsetzen, welche einen neuen, besseren Zustand zementieren.
Wie nun wird beim kreativen Prozeß gewertet? Ästhetische Urteile („es gefällt“ versus „es gefällt nicht“) sind eine Form möglicher Bewertungen. Andere wären moralische („es ist gut“ versus „es ist nicht gut“), sexuell motivierte („es lockt an“ versus „es stößt ab“) oder auf Erkenntnis gerichtete „es ist eine befriedigende Erklärung“ versus „es erklärt nichgt oder nicht genug). „Das Gehirn“, sagt Maturana in einem Interview (1994), „ist eine Maschine, die sensumotorische Verbindungen (Korrelationen) im Organismus herstellt. Welche Korrelationen dies sind, hängt von der jeweiligen Struktur des Nervensystems in jedem einzelnen Moment ab.“ (S. 45). Weniger die Außenreize, als vielmehr die von innen gelenkte Aktivität bilden danach die Ausgangsstation für nachfolgende Veränderungen. Dies lenkt den Blick eher von der Betrachtung fertiger Kunstwerke fort und auf den Prozeß ihrer Erzeugung hin. Kreative Praxis mag eine Tätigkeit sein, die aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität in einer besonderen Weise Modulation ermöglicht. Doch läßt sich nicht ableiten, wie die Veränderung eines Schmerzerlebnisses im Schaffensprozeß vor sich ginge.
Pöppel (1993) legt einen Akzent darauf, daß, von der Warte der Hirnforschung aus betrachtet, Wahrnehmen, Handeln und Bewerten nicht als unterschiedliche Kategorien, sondern als miteinander untrennbar verknüpfte Tätigkeiten erscheinen. Ein Erzeugen von inneren Erfahrungen ist demzufolge ein hochkomplexer Akt, in dem die Erfahrung und eine Kultivierung dieser Erfahrung immer beisammen liegen. Dies setzt Kunst von allem anderen Tun ab, und es enthält zugleich die Möglichkeit, daß Kunst einen Schmerz gestaltet und „kultiviert“ in nur einem Arbeitsvorgang. Der Schmerz ist demnach, nachdem Georgia O’Keefe ihm eine Zeichnung widmete, nicht mehr ganz derselbe gewesen wie zuvor.