II. Der Kunstschmerz
Untersuchen wir die Art, in welcher ein Organismus Schmerz erzeugt und aufrechterhält, so könnten wir neben die eher minimalistische Methode (welche sich mit Neuronenaktivitäten befasst) einen besonders weit angelegten Ansatz stellen, der den Schmerz systemisch aus sozialem Umfeld und kultureller Gepflogenheit ableitet. Nehmen wir nun zwischen diesen beiden Positionen eine dritte ein, die zwar individuumsbezogen, aber anstatt physiologischer psychologischer Natur ist, so können wir sagen: Organismen erzeugen Schmerz und halten ihn aufrecht, indem sie Trancezustände herbeiführen und aufrechterhalten. Die Mittel, dies zu tun, kennen die meisten Menschen noch aus ihrer Kindheit: Kinder (und später auch alte Menschen wieder) empfinden oft Schmerzen vor oder nach dem Haare- und Nägelschneiden. Weder Haare noch Nägel werden berührt, und doch wird Schmerz erlebt. Bloß eingebildeter Schmerz? Oh ja, aber in einem bedeutend anderen Sinn, als uns dies zunächst erscheinen mag. Die Einbildung erfolgt nämlich vermutlich nicht nach Art einer kleinen, harmlosen „Zwischendurch-Fantasie“, sondern vielmehr, um ein Beispiel aus dem sexuellen Erleben zu bemühen, nach Art sogenannter „feuchter Träume“, bei denen kein Partner im Zimmer ist, keine Berührung stattfindet und doch das Traum-Erleben (= Einbildungs-Erleben) so stark ist, dass es aufgrund von Hirnaktivität einen Orgasmus bewirkt.
Der Dichter Zbigniew Herbert hat über die Bilder Masaccios geschrieben: „Die Körper der Helden und Statisten von Masaccio sind, aus beseeltem Lehm geformt, aus Fleisch und Blut.“ (Herbert 1992, S. 49). Ist dieser Effekt aber wirklich nur auf die Bilder zurückzuführen, oder nicht auch auf etwas im Hirn des Betrachters? Vermutlich ist das eine nicht ohne das andere denkbar, ganz gewiss aber sind beide Prozesse nicht ohne Trance möglich. Trance läßt gemalte Körper zu fleischigen, blutdurchpulsten Körpern werden. Sie macht einen Lehmklotz verführerisch und ebensogut einen schönen Körper häßlich. Sie ermöglicht es, die Gegensätze zu überwinden und das Erschreckende mit dem Bezaubernden zu verbinden: „Ich bin so voller Narben“, erklärte Andy Warhol ein paar Monate, nachdem er ein Attentat überstanden hatte, einem Szene-Magazin, „man könnte mich für ein Kleid von Dior halten…“ (zitiert nach Schmidt 1997). Was ist hier geschehen? Offenbar ist das Prinzip der Gestaltung Warhol so zu eigen geworden, daß es auch in Momenten wirkt, in denen er nicht künstlerisch schafft, oder, anders gesprochen: Er schafft eigentlich immer.
Vorstufen des Vorgangs, den wir hier bei Warhol erkennen, sind leicht bei Kindern zu beobachten. Sie prahlen mit aufgeschlagenen Knieen, nachdem sie sie eingehend gemustert haben. Sind dies aber wirklich Vorstufen, oder nicht doch schon die Fähigkeit selbst? Der Zufall will es, daß ich eben an diesem Vormittag eine Diskussion mit einer Freundin darüber führte, ob kleinen Kindern – in diesem Fall Vierjährigen – bereits realistisch gezeichnete Indianer- oder Piratenbücher zugänglich gemacht werden sollten. In den Büchern, um die es ging, waren unter anderem hingestreckte Soldaten zu sehen, auf deren Blusen Blutflecke standen, versehrte Seefahrer mit Stümpfen anstatt der Beine, sowie die Gesichter an Skorbut Erkrankter inklusive der ausgefallenen Zähne. Von uns Erwachsenen aus betrachtet, waren es versiert gemalte, aber nichtsdestoweniger häßliche, teils erschreckende Bilder, und die Frage, die sich stellte: „Ist dies für kleine Kinder auch verarbeitbar?“ war sicher angebracht. Kann sie aber überzeugend beantwortet werden?
In der Formulierung der Frage ist die Antwort bereits enthalten: Eine befriedigende, allgemein verbindliche Lösung gibt es hier nicht. In einem Kindergarten ist leicht zu beobachten, dass das, was das eine Kind erschreckt, dem anderen noch grinsende Distanz ermöglicht. Die Wirkung von Kunst ist diesem Phänomen analog begreifbar und von zahllosen Faktoren abhängig, die teils im gesellschaftlichen Wandel und der Veränderung der Sehgewohnheiten (schwer vorstellbar, daß man die Gesichter auf den Bildern Renoirs und Monets einmal mit verwesenden Leichen assoziierte), teils in der Biologie (unterschiedliche Physiologie bringt unterschiedliche Psychologie hervor) und teils natürlich in der individuellen Biographie wurzeln. Wenn wir also die Bedeutung von Kunst bei Schmerz in Verbindung mit Trancephänomenen untersuchen wollen, dann brauchen wir eine Ordnung, an die wir uns halten können, um nicht heilos verwirrt zu werden. Da diese Ordnung nicht aus dem klinischen Denken stammen kann – das Prinzip: eine Behandlungsform für ein Syndrom hat sich bei Schmerzphänomenen als unzureichend erwiesen – ist es naheliegend, sie an die verschiedenen Hintergründe, aus denen eine künstlerische inspirierte Therapie des Schmerzes sich bedienen könnte, anzulehnen.