XI. Kunstpsychologie als Veränderungswissen

„Psychologie und Kunst“, schreibt Arnheim, „diese beiden können als der Vater und die Mutter der Kunsttherapie bezeichnet werden.“ (S. 257).

Kunst und Psychologie – diese Elternschaft erscheint nicht zwingend. Ebensogut hätte, da es um Therapie geht, anstelle von „Psychologie“ hier „Medizin“ stehen können. Die Frage ist also, warum neben der Kunst gerade Psychologie die Kunsttherapie begründen soll. Arnheims beantwortet sie wenige Seiten später. „Körperliche Verletzungen“, heißt es dort, „zählen für den Menschen als mentale Erfahrungen.“ (S. 261). Hiermit wird allerdings das Feld der Psychologie betreten, denn in der Anwendung bedeutet der Satz, dass eine Schmerzkrankheit dann wandelbar sein wird, wenn es gelingt, sie als mentale Erfahrung zu verändern.

Wie aber kann Gestaltung mentale Repräsentation von Schmerz verändern? Gombrich (1978) hat anhand der Frage, wie ein chinesischer Maler eine walisische Landschaft malen würde, gezeigt, daß der Maler nur solche Anteile der Landschaft abbilden kann, für die er Schemata besitzt. Anders gesagt: Traditionen sind reizfilternde Systeme, welche eine Wirklichkeit stets nur in Teilen erkenn- und abbildbar machen. Angenommen also, wir knacken ein Schema auf, indem wir eine Person anleiten, so zu gestalten oder zu sehen, wie sie es aufgrund ihrer Tradition nicht täte – haben wir dann nicht die Möglichkeit, ihr gesamtes Erleben, einschließlich ihrer Schmerzrepräsentation, zu verändern?

Eine Frage, welche sich im Bereich der Kunstpsychologie als einer theoretischen Disziplin immer wieder stellt, ist die, ob muß es Gestaltung sein muß, die den Menschen wandelt, oder ob vielleicht auch das bloße Anschauen einer Skulptur genügt, unabhängig davon, ob ich sie selbst gebildet habe? Eine Auseinandersetzung mit Positionen der Kunstpsychologie legt tatsächlich nahe, daß das Wirkenlassen von „fremden“ Kunstwerken ebensoviel Veränderungspotential enthält wie das Bilden selbst. Dabei wird vorausgesetzt, daß auch Rezeption kreativ ist, was KünstlerInnen übrigens immer schon betonten. Ich hörte eine Malerin sagen, sie freue sich über jeden, der in ihren Bildern eine persönliche Erinnerung wiederfinde. Dies kam als Reaktion auf die Anmerkung eines meiner Kollegen, er finde in ihren Landschaftsbildern flandrische Wälder wieder, durch die er gerne gestreift sei.

Somit könnte also eine „aktive“ und eine „passive“ Kunstschmerztherapie möglich sein, wobei Erstere auch Handarbeit wäre, während die passive Form still und ohne äußere Verrichtung geübt werden könnte, was sie variabler machte. Innerhalb der passiven Form wären sodann die Übungen zu unterscheiden, bei denen man sich in selbstgeschaffene, und die, bei denen man sich in fremde Werke vertieft.

Nun aber stellt sich die Frage nach der Art des Wirkens, auf die sich passive Kunstschmerztherapie beriefe. Kunstwerke sind vermutlich nicht wie eine Kurve berechenbar (vgl etwa Lantermann 1992), weder was ihre Herstellung, noch was ihre Wirkung betrifft. Insofern kann nicht Kranken dies oder jenes Bild „verschrieben“ werden, um diese oder jene Krankheit zu kurieren. Vielmehr bleibt wenig übrig, als die Kranken „ihre“ Bilder selbst entdecken zu lassen. Dabei vertrauen wir auf die Fähigkeit eines Individuums, den Füllstoff, den es für seine Lücken benötigt, selber erkennen zu können.

Folgt man abermals Arnheim, so bestünde das, was ich „passive“ Kunsttherapie des Schmerzes nannte, vielleicht auch nur in einer Erweiterung des sinnlichen Wahrnehmungsvermögens. Arnheim bescheinigt dem normalen Menschen in einer westlichen Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (also jenem Menschen, der sich als anfällig erwiesen hat für chronische Schmerzsyndrome) eine „Mangelkrankheit der Sinne“, begründet durch verringerte Chancen, sinnliche Erfahrungen zu machen. (Arnheim 1991). Diese Krankheit zu kurieren bedeutet nach Arnheim, die Wahrnehmungsfähigkeit für sinnliche Ereignisse zu steigern, was durch die stete, einlassende Betrachtung von Kunst möglich ist. (Es verlockt, den Sachverhalt hinsichtlich der Entstehung von psychosomatischen Schmerzsyndromen einmal umgekehrt kausal zu betrachten, und einen Zusammenhang herzustellen zwischen sinnlicher Verarmung und dem Auftreten von Schmerzen, die als sinnlich erlebt werden, jedoch ihrer wahren Natur nach Hirnprodukte, also gänzlich unsinnlich sind. Diese Spekulationen, die in der Psychosomatik eine Kompensation der verringerten Sinnlichkeit erkennten, führen aber zu weit vom Thema fort, um ihnen hier nachgehen zu können.)

Eine völlig andere Konsequenz als die der Kur durch sinnliche Bereicherung ergibt sich aus einem Satz, den ich in einem Aufsatz von Peel (1984) fand. Peel schreibt: „Das abstrakte Bild lehrt uns, die Welt formal zu sehen, als eine Komposition von Formen und Farben, als eine rein ästhetische Struktur.“ (S. 39) Hinter dieser harmlos scheinenden, nur auf abstrakte Malerei bezogenen Aussage verbirgt sich die These, ein Bild lehre eine Weise, die Welt zu sehen. Diese Lehre scheint wie im Beispiel sogar sehr radikal sein zu können, denn die Welt als „rein ästhetische Struktur“ wahrzunehmen bedeutet, sie ihrer Inhalte zu entkleiden. (Wobei zugleich Nietzsche bestätigt wird, der fand, die Welt sei nur ästhetisch zu rechtfertigen.) Wenn dies möglich ist, wenn ein Kunstwerk eine Weise anerziehen kann, die Phänomene der Welt einzuordnen, dann kann auch ein Schmerz jene Neubewertung erfahren, die nötig ist, um das Leiden am Schmerz zu verringern.

Eine besondere innere Bewegung kann da erwartet werden, wo der Körper selber zum Gegenstand des Malens wird. Hierbei wird ein Weltausschnit einerseits, ein Stück Person andererseits zum Thema, und man kann Peels Aussage abwandeln und sagen: Das Bild vom Körper, das Körperporträt gibt uns ein Bild von dem, was wir sind. Wenn wir das Körperbild aber verändern, dann werden wir uns auch eine andere Sicht von uns selber lehren.

Von Uslar (1982) liefert Beispiele, wie die plastische Darstellung des Körpers das Verhältnis zum Körper prägt: „Im ruhigen Dastehen archaischer Plastiken ist der Leib dem Sein und der Welt anders ausgesetzt als in der ausgewogenen Haltung der griechischen Klassik, die das Gewicht auf Stand- und Spielbein verteilt und durch die Harmonie des Eingefügtseins in den umgebenden Raum gekennzeichnet ist. Wieder anders gestaltet sich das Verhältnis des Leibseins zur Welt in der Figura serpentinata des Manierismus und des Barockzeitalters, jenem geheimnisvollen in den Raum Hineingedrehtsein, in welchem die Achsen der Füße, der Hüften und der Schultern und die Blickrichtung des Kopfes so zueinander verschoben sind, dass sie je verschiedenen Richtungen des Raumes frontal entgegenstehen. Man braucht nur diese Haltung nachzuvollziehen, um zu erleben, in welcher Weise hier der Leib in den Raum verwoben ist.“ (S. 539) Und es entsteht, kann man hinzufügen, eine Ahnung davon, welche Mittel der Manipulation Kunst in Hinsicht auf den Körper (die Körperempfindung, das Körperbild) besitzt.

An dieser Stelle taucht die Frage nach Schönheit auf, die trotz vieler Relativierungen mit der Frage nach der Kunst ebenso verknüpft bleibt, wie sie es mit der Frage der Gesundheit ist. Das dritte Fallbeispiel unter dem Punkt hat uns eine Person gezeigt, für die insbesondere die Ästhetik ihres Körpers das Problem war, das sie kunsttherapeutisch lösen konnte. Doch ist der Zusammenhang zwischen Schmerz und Körperschönheit mehrgestaltig: Für viele PatientInnen erwächst aus ständigem Schmerz ein Hadern mit der eigenen Körperlichkeit, das im Gefolge das Gefühl der Unattraktivität hat. Bei anderen entsteht der Schmerz überhaupt erst aus dem Gefühl des Beschädigtseins, etwa nach Amputation eines Gliedes. (Oder er steigert sich, wenn dort, wo z. B. ein Reizdarm wehtat, nach Entfernung eines Stücks Darm der Schmerz nun erst richtig loslegt.) „Wer schön sein will, muß leiden“ – so argumentiert die dritte Gruppe Betroffener, die man aber, obgleich ihre Mitglieder nicht selten Verstümmelte sind, kaum in Kliniken oder Praxen antrifft, da bei ihnen durch die Erfüllung des Lebenskonzepts der Leidensdruck geringer bleibt. Tragisch sind nur jene, die um der Schönheit willen sich einer Operation und vermeintlich kurzem Wundschmerz unterzogen, um hinterher festzustellen, daß durch Narbenbildung nun chronische Schmerzbelastung zustandekommt.

Nach Schönheit, in welcher Form auch immer, streben vermutlich alle Menschen. Sie ist ein Zustand, den wir wieder herzustellen trachten, wo wir ihn verlorenglauben. Vor allem aber ist sie auch ein Sinnbild für das Unverletzbare, denn verkrüppeltes Schönsein ist nicht vorstellbar. (Wo wir Verletztes „schön“ finden, da geht eine Bewertung mit ein, die der Verletzung selbst eine andere Bedeutung zuweist. Dies gilt etwa dort, wo uns gemarterte Heilige ansprechend erscheinen. Wir setzen die Würde, die in ihrem Zustand liegt, in diesem Fall dem Augenschein zu, und aus der Summe ergibt sich unser Empfinden.)

Kann Schönheit auch heilen? „Das Schöne“, schreibt Schurian (1984), „verspricht keine zukünftigen Paradiese, um deretwillen die Gegenwart ertragen werden soll, sondern es ist Paradies: der jeweilige, allgegenwärtige Ort bewußten Verweilens.“ (S. 50). Das klingt wahrhaftig danach, heilsam sein zu können, denn es erlaubt, „Paradies“ gegen „Schmerz“ zu setzen. Wobei unter „Paradies“ hier nicht mehr ein Zustand der Schmerzfreiheit verstanden würde, sondern im Gegenteil einer, für den es lohnte, die Schmerzen in Kauf zu nehmen.

Tatsächlich gibt es in der Kunstschmerztherapie – wenn auch selten – einen Prozeß, bei dem PatientInnen ihren Schmerz als den Impuls annehmen, der neues Wahrnehmen überhaupt erst ermöglicht. Eine andere, von manchen KunsthistorikerInnen hervorgehobene Weise, mit dem Schmerz zu verfahren, besteht darin, ihn zu ästhetisieren. Um diesen Weg nachzuvollziehen, lohnt es sich, einen Blick in das zu werfen, was aus der Kunstgeschichte über KünstlerInnen erarbeitet wurde.

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