IV. Ein erkenntnistheoretisches Dilemma
Bevor wir zur Kreativität gelangen, haben wir noch eine Hürde zu nehmen. Diese betrifft unsere Urteilsfähigkeit und unseren Konsens über das, was „wahr“ sei. Der Soziologe Howard S. Becker hat einmal über Drogenkonsumenten geschrieben: „Gewisse moralisch getönte Vorstellungen über die Natur des Drogengebrauchs oder des Drogenbenutzers beeinflussen demnach den Drogenbenutzer selbst.“ (Becker 1973, S. 70). Setzen wir hier für „Drogenbenutzer“ einmal „Schizophrener“ ein, so ergibt sich das folgende Bild: Obgleich er sich von seinen Mitmenschen unterscheidet, so beeinflußt ihn ihr Urteil über seine Person doch. Ob er will oder nicht, er sieht sich zumindest teils mit ihren Augen – was ihn zweifellos daran hindert, das in seinem Zustand steckende Potential in nützlicher Weise umzusetzen. Wollen wir dies ermöglichen, so müssen wir in der Psychotherapie zunächst eines tun, wir müssen die Person in ihrem Zustand wertzuschätzen lernen. Der Unterschied zur „üblichen“ Wertschätzung liegt nun darin, daß wir nicht mehr Person und Zustand gegeneinander ausspielen, sondern auf die Möglichkeiten der Person in diesem Zustand fokussieren. Wie weit aber haben wir dabei zu gehen?
„Einmal“, heißt es bei Navratil (1996), “ erzählte Hans, daß ihm die Mutter Gottes und der Teufel erschienen seien.“ (S. 70). Was ist von einer solchen Äußerung zu halten? Kretschmer hat auf den oft erotischen Hintergrund der „sinnlich-übersinnlichen Gedankengebäude“ verwiesen (Kretschmer 1949, S. 165). Alexander Lowen, der in seiner „Bio-Energetik“ (1979) auf den Zusammenhang von Verspannungen der Hinterkopfmuskulatur und schizophrenen Zuständen verwies, betont an anderer Stelle, daß Schizophrene einen besonderen Sensus für außersinnliche Erfahrung besäßen. Diese Gabe könne, so Lowen (1991), mit ihren durchlässigen Ich-Grenzen erklärt werden. Immerhin aber werden Erfahrungen wie die von Hans durch Lowen in ein anderes Licht gerückt, indem sie erklärt, aber nicht in ihrem Realitätsgehalt bestritten werden. Im Grunde sagt Lowen bloß sinngemäß: Gesund ist dies nicht, aber es scheint echt zu sein.
Natürlich sind diejenigen TheoretikerInnen, welche einer materialistischen Sichtweise verhaftet bleiben, nicht weniger wesentlich als der ein wenig zu unscharfen Formulierungen neigende Lowen. Der Psychopharmakologe Ronald K. Siegel (1995) beispielsweise hat Fälle gesammelt und kategorisiert, in denen Menschen zu außergewöhnlichen Sichtweisen neigten. Brisant wird dies nicht zuletzt dadurch, daß Siegel selbst verschiedentlich bereit war, sich unangenehmen Versuchsanordnungen – etwa in einem Isolationstank – zu unterwerfen, um seine Daten durch Selbsterfahrung zu ergänzen. Dabei kam es auch zu Erfahrungen mit Alben und Geistwesen, von denen sich der Forscher heimgesucht fand. Siegels Credo bleibt jedoch eindeutig: All dies, so schreibt er, findet in unserem Gehirn statt und hat nichts zu tun mit Phänomenen außerhalb unserer Person.
Wenn Schizophrene uns berichten, sie hätten im antiken Rom einen ägyptischen Mann gehabt, welchen sie im Schlaf erdolchten; wenn sie sagen, sie seien hexisch begabt und pflegten Kontakte mit Verstorbenen; wenn sie schließlich behaupten, ihre Denken würde von anderen beeinflußt, dann pflegen wir dies als „Wahnsymptome“ zu bezeichnen. Wir werden diese Symptome, je nachdem ob wir eher biologisch, psychologisch oder soziologisch argumentieren, als Produkte aus den Fugen geratener Biochemie, Symbolbildung in einer inneren Verstrickung oder als Folge gestörter Interaktionsmuster interpretieren. Auf eine Interpretation kommen wir in aller Regel nicht – daß diese Berichte wahr sein könnten. Stanislav Grof aber betont vor dem Hintergrund seiner Ausführungen zur transpersonalen Psychologie, daß das der westlichen Psychiatrie krank Erscheinende in vielen Fällen eine Berührung mit dem Numinosen, eine spirituelle Krise sei (vgl. Grof & Grof 1991). Dabei müssen wir selbst keine Esoteriker sein, um zu erkennen, daß wir keineswegs mit Sicherheit behaupten können, es gebe keine Hexen oder die Reinkarnation sei eine Phantasiegeburt. Tatsache ist, wir wissen es nicht – aber handeln wir nach dieser Tatsache? Täten wir es, so müßten wir anerkennen, daß die Person möglicherweise tatsächlich als Römerin gelebt, tatsächlich Hexenkräfte in sich hat. Das Kind, das wir einmal gewesen sind, wird hier unruhig. Der Erwachsene, der wir auch sind, aber sollte die Möglichkeit – welche aus erkenntnistheoretischer Sicht nicht geringer ist als die der von uns für „realistisch“ angesehenen Alternativen – aushalten können.