Gilligan vergleicht suggerierte Bedürfnisse auch mit Viren, die dem Organismus nicht wohlwollen, sondern ihn besetzen und ausnutzen. So ist die hypnotherapeutische Arbeit auch mit der eines Immunsystems zu vergleichen, oder, um es schärfer zu formulieren, mit einer das „psychologische Immunsystem“ stärkenden Arbeit. Denn ein Mensch, dessen psychisches Immunsystem ganz auf der Höhe ist, wäre wohl weitgehend resistent gegenüber schlimmeren Gedankenviren. Leichtere könnten in ihn eindringen und er führte kurz Krieg gegen sie – dies wäre eine Art seelischer Schnupfen. Doch schlimmere, destruktive besonders hätten keine Chance, wohingegen die „Selbste“, die der gesunde Mensch in sich spürte, wahrgenommen und akzeptiert würden. Bei diesem Bild von einer intakten Persönlichkeit werden Analogien zur humanistischen Psychologie leicht erkennbar, insofern auch in dieser davon ausgegangen wird, der gesunde Mensch sei grundsätzlich in der Lage, seine echten Bedürfnisse von künstlichen zu unterscheiden und das, was er in sich selber finde, als sein Inneres zu würdigen, ohne dagegen Krieg zu führen. Eine andere Analogie besteht zum Aikido, einer fernöstlichen Kampfsportart, auf deren philosophischen Hintergrund sich Gilligan bezieht.

Es heißt im Aikido, die Seele durchströme den Menschen nach Art eines Flusses, und der Mensch fühle sich eins mit diesem Fluß. Die Einheitswahrnehmung hat aber etwas damit zu tun, daß der Mensch den Fluß als Fluß nimmt und nicht etwa als eine Summe einzelner Tropfen oder als eine Aneinanderreihung von Kubikmetern Wassers, die hintereinander herströmen. Der Fluß ist Fluß, die Seele Seele, der Mensch mit ihr eins. In dem Moment, wo wir nur auf ein Stück Fluß (= ein Stück Seele) schauen, ändert sich das Empfinden. Das Angeschaute wird nun als Gesondertes betrachtet, als – fremd.Handelt es sich dabei um ein unangenehmes Gefühl, Eifersucht zum Beispiel, so wird die Wahrnehmung nun die werden, die Eifersucht führe ein Eigenleben und störe in mir. Sie sei zu groß, zu breit, zu feist und behindere mich in meiner Entwicklung. Tatsächlich entspringt dieser Eindruck bloß dem Schauen-auf-die-eine-Stelle, und er wäre leicht korrigierbar dadurch, daß der Blick wieder das Fließen des Stromes, seine ruhige Gesamtheit sähe. Hierzu aber muß er erst wieder von seiner Fixiertheit gelöst werden, d.h. die Eifersucht (oder das entsprechende „negative“ Gefühl) muß kenntlich werden als etwas zum Fluß Gehöriges, damit dann der Fluß wieder angeschaut, die Eifersucht zum Teil des Stromes und so wieder zu „mir“ werden kann.

Wenden wir die Vorstellung von „shadow selves“ und von „aliens“ auf die Flußmetapher an, so erhalten wir ungefähr dieses Bild: Die Seele ist ein einmal ruhig, einmal schneller dahinströmender Fluß. Alles an diesem Fluß ist Teil und Ganzes zugleich, und der Fluß ist grundsätzlich in der Lage, aus ihm selbst entspringende Defizite auszugleichen. Ein toter Fisch etwa in seinem Wasser macht für die Wasserqualität insgesamt nichts aus. Begehe ich nun aber den Fehler, einen Eimer Wasser aus dem Fluß herauszufischen, und just in dieser Wassermenge schwimmt ein toter Fisch, so werde ich sagen: „Gefährlich, dieses Wasser ist verseucht. Man muß aufpassen, etwas scheint nicht in Ordnung zu sein.“ Der herausgeschöpfte Eimer Wasser wäre in Gilligans Terminologie ein „shadow self“ – heikel geworden bloß durch seine Herauslösung aus dem Großen, Ganzen. Selbstverständlich ist der Fluß in der Lage, mit einem Kubikmeter von Fischleichen belasteten Wassers fertigzuwerden. Fische sterben nun einmal, dergleichen kommt täglich vor im Fluß, und es ist nicht nötig, sich darüber Gedanken zu machen, solange man den Fluß sein Werk verrichten, seine Selbstreinigung durchführen läßt. Alles, was ich mit jenem Eimer Wasser samt totem Fisch darin zu tun habe, ist also – ihn zurückzukippen. Der Fluß wird ihn aufnehmen, das durch Zersetzung belastete Wasser löst sich im Flußwasser auf und dient gleichzeitig Mikroorganismen zur Nahrung, der Fluß tut, was er immer tut – alles ist in Ordnung. Das reintegrierte „Schattenselbst“ wird im, Strom der Seele gelöst, wieder nützlich und vollkommen unauffällig zugleich. Es ist wieder Fluß, nicht Pfütze; nicht mehr krank, sondern Teil einer ständigen Wandlung.

Und was ist für den Fluß ein „alien“? Nun, vermutlich etwas, das nicht aus dem Fluß selbst entsteht, und das zu beseitigen der Fluß insofern nicht in der Lage sein mag. Eine Einleitung von Formaldehyd oder Altöl etwa ist ein „alien“; ihr zu begegnen ist auch der gesunde Fluß nicht allein in der Lage. Es muß eingegriffen werden, die verseuchende Flüssigkeit muß herausgefiltert, die Einleitung gestoppt werden. Dies ist möglicherweise ein Prozeß, für den Hilfe von außen erforderlich ist. Filteranlagen bauen, die Einleitung verbieten – aus der Metapher herausgelöst könnte dies etwa bedeuten, Wege zu finden, sich den immerfort in uns eingeleiteten suggerierten Bedürfnissen zu verschließen. Oder aber eine in uns wirkende Botschaft als etwas in uns hineingesetztes zu entlarven, so daß wir sie wieder außer uns stellen können. Wenn ich begreife, daß das Bedürfnis nach immer größeren Autos nicht meiner eigenen Psyche entspringt, sondern Folge einer von anderen bewirkten Verseuchung ist – nun, dann kann ich mich durch geeignete Strategien zu imunisieren lernen. Wenn ich erkenne, daß meine Überzeugung, ich sei sprachlich minderbegabt, bloß darauf zurückzuführen ist, daß eine bestimmte Person es mir fortwährend eingepaukt hat – dann bin ich in der Lage, diese Botschaft dem Absender oder der Absenderin wieder zurückzugeben und mich selbst davon zu befreien. Mein Seelen-Fluß ist nun nicht mehr verpestet und in der Lage, als gesundes biologisches System mit dem fertigzuwerden, was ihm an gewöhnlichen Anforderungen begegnet und auf was er eingerichtet ist.

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