Punkt 3:
ist möglicherweise der heikelste unter den hier angesprochenen, sicher aber der mit der größen Tragweite. Die Frage, inwieweit der Wahn Reales wiedergibt, hat die Schizophrenieforschung seit jeher in zwei Lager gespalten, von denen das eine (vor allem Ronald D. Laing und seine existanzialistisch orientierten NachfolgerInnen) erklärt, jede Aussage der Erkrankten habe einen Wahrheitsanspruch, während das andere (vor allem die biochemisch argumentierenden Forschergruppen) den Defekt in den Vordergrund stellt. Auch in künstlerischen Darstellungen ist dies Thema beliebt. So wird in Terry Gilliams Film „12 Monkeys“ ein Mann als paranoid interniert, welcher behauptet, aus einer virenverseuchten Welt zu stammen, in der die Tiere die Welt regieren und die letzten Menschen unter der Erde leben. Es ist schockierend zu sehen, wie dies alles wahr ist (der angebliche Paranoiker, gespielt von Bruce Willis, stammt aus der Zukunft und kennt die düstere Zukunft der Menschheit genau), und wie dennoch die Deutungen der Psychiatrie sich als falsches Evangelium über die Realität breiten. Im Film kommt es schließlich zu der absurden Situation, daß die Psychiaterin von ihrem Patienten die „Wahrheit lernen“ will, während er sie anfleht, ihn von seinem „Wahn zu kurieren“.
Karl Jaspers hat dem, was Schizophrene über sich selbst sagen, den Charakter von „Selbstdeutungen“ verliehen, welche „offensichtlich zugleich unter wahnhaften Tendenzen und tiefen geistigen Kräften“ stünden (Jaspers 1923, S. 221). Anscheinend tendieren wir dazu, Schizophrene immer entweder als Weniger-Wissende (wie die westliche Welt und ihre Psychatrie) oder als Mehr-Wissende (wie beispielsweise manche indianische Kulturen und diverse Künstler) anzusehen. Zwischen diesen Polen bleibt aber immerhin die Möglichkeit offen, daß Schizophrene ungefähr soviel wissen, wie wir – und daß sie sich von uns Normalen weniger unterscheiden, als wir konstruieren. Wenn wir nun jene hypnotherapeutische Kernthese, wonach ein Mensch prinzipiell mit dem Heilpotential unbewußten Selbstwissens ausgestattet sei, auch auf schizophrene Personen anwenden wollen – geraten wir damit nicht zwangsläufig in eines der beiden Lager und somit auf eine möglicherweise in ihrer Radikalität veraltete, aktuellem Behandlungsanspruch nicht mehr angemessene Position?
Die Gefahr besteht, gewiß. Wir dürfen, wo wir Patienten den Zugang zum Selbstwissen legen wollen, zunächst den Krankheitsfaktor nicht geringschätzen. De facto reißt die Pathologie der Schizophrenie manchen Menschen in den Abgrund, und dies wird man kaum als die Handlungsweise eines wissenden, auf Selbstorganisation und gelingende Lebensführung hinwirkenden Unbewußten mißverstehen können, selbst wenn man gesellschaftliche Anpassung nicht für das höchste der Güter erachtet.
Inzwischen gibt es verschiedene Modelle der Krankenbetreuung, durch die die Betroffenen lernen, sich selbst zu betreuen, indem sie beispielsweise rechtzeitig ihre Medikamentendosis erhöhen, wenn sie vermehrte Ängste oder die Bereitschaft zu irrationalen Sichtweisen spüren. Verschiedene Autoren diskutieren wie Finzen (1995) diese noch verhältnismäßig neuartige Weise, mit der Medikation zu verfahren; gelegentlich wurde auch in der Presse über diese neuen Ansätze der Schizophrenie-Therapie berichtet (Vinzenz 1996). So sehr diese Modelle zu begrüßen sind – sie erreichen doch nur jenes Patienten-Kontigent, welches sich, wie in dem erwähnten Artikel beschrieben, froh zeigt um der Schizophrenie-Diagnose willen, da nun das Leiden einen Namen hat. Wir sind damit wieder beim eingangs benannten Dilemma – was tun mit jenen, welche die Medikation fürchten und auf der „Erlaubnis“ zur Selbstorganisation bestehen? Sind sie zu dieser in der Lage, oder werden sie sich und andere dabei schädigen?
Welche der vielen unterschiedlichen „Stimmen“ der Kranken aber sollen wir nun für die des Selbstwissens halten? Sind wir nicht in der Position eines Radiohörers, dem die Sender durcheinandergehen und der sich verzweifelt um Justierung bemüht – verzweifelt, weil er zwar weiß, welche Sendung er hören wollte, aber nicht, woran er diese erkennen kann? Und selbst wenn nur ein einziger Sender spielt – was, wenn er ein immerfort paranoides Programm dudelt, sollen wir dann hier von „Selbstwissen“ reden und an die Fähigkeit zur Selbstorganisation glauben?
Die Antwort ist „ja“. Allerdings werden wir dabei außer acht lassen müssen, was wir normalerweise an „vernünftiger Planung“ von Menschen erwarten, denn die Zone, aus der das Selbstwissen stammt, könnte ihrem Wesen nach unvernünftig sein. Sie entspricht augenscheinlich gerade nicht dem, was wir als „gesundes Ego“ aufzufassen gelernt haben „Jenes ego, dessen Stärke unsere Theoretiker gegenwärtig durch die Fähigkeit definieren, Frustrationen auszuhalten, ist seinem Wesen nach selbst Frustration.“ – erklärte Jacques Lacan in seinem Bericht „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“ (nachzulesen in Lacan 1973, S. 87). Es ist deutlich, daß Hypnotherapie mit ihrer Bevorzugung eines autonomen, wissenden Unbewußten, welches sich in verschiedenen Instanzen äußern kann, wie geschaffen ist, um die Selbstregulierung von Patientinnen und Patienten auch jenseits des „Vernünftigen“ möglich zu machen. Dies wird allein technisch vielleicht nicht einmal schwer sein. Problematischer ist, daß wir ein Engagement aufbringen müssen, das gewöhnliches therapeutisches Handeln weit hinter sich läßt. Wie Laing einmal beschrieben hat, ist es eine Sache des Hinhörens und Beim-Patienten-Seins, eine Sache der Annahme des schizophrenen Zustandes als eines der vielen menschenmöglichen Zustände – wo aber diese Nähe gesucht, dies Zuhören gegeben und diese Bereitschaft zum Engagement vorhanden sind, da läßt sich das „falsche Selbst“, wie Laing es nennt, von jenem unterscheiden, das „wahr“ ist (vgl. Laing 1972).
Laings Umschreibungen des Sich-Hineinhörens in die fremde, schizophrene Welt wird inzwischen übertroffen von dem, was die hypnotherapeutische Theoriebildung uns über das „Selbst“ und seine Weisen, sich zu äußern, gelehrt hat. Insbesondere ist hier die „Self-Relations-Psychology“ von Stephen Gilligan (1999) zu nennen, die auf ein radikales Umdenken hinsichtlich therapeutischer Interventionen hinzielt und nun vorgestellt werden soll. (Anm.: Die Vorstellung entspricht in weiten Teilen den Absätzen 7 – 9 aus meinem Buch „Ericksons Söhne“ (Milzner 1998b)).