VII. Self-Relations-Psychologie und Schizophrenie

Es ist vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich, inwiefern Stephen Gilligans hypnotherapeutisch inspirierte Persönlichkeitstheorie für die Behandlung der Schizophrenie von Belang sein soll. Immerhin liegt bei Schizophrenen keine simple Bedürfnisverwirrung, kein banales Einordnungsproblem vor. Oder?

Tatsächlich weist die „Self-Relations-Psychologie“ Ähnlichkeiten zu verschiedenen Schizophrenie-Modellen auf, die wir eingangs erwähnten, etwa dem von Deleuze und Guattari formulierten. Diese beiden Autoren haben in ihrem „Anti-Ödipus“ (1974), einer schneidenden Psychoanalyse-Kritik, herausgearbeitet, daß Schizophrene sich vor allem dem jeweils gesellschaftlich gültigen „Code“ – d.h. der aktuellen Wahrnehmungs- und Kommunikationsform – verweigern. Sie tun dies nach Ansicht von Guattari und Deleuze aber nicht, weil sie schlimme Familien hätten (das haben viele), sondern sie konterkarieren eine ganze Gesellschaft. Gilligans Theorie läßt sich hier nahtlos anschließen, denn offenbar sind Schizophrene Menschen, die das kapitalistische Gefühlsmodell („Meine Gefühle gehören mir!“) nicht teilen. Vielmehr erleben sie ihre inneren Prozesse als von außen in sie hineingepreßt (paranoide Schizophrenie), oder sie überlassen sich ganz dem Strom der inneren Ereignisse und Empfindungen (hebephrene Form), oder aber sie verschließen sich dem gesellschaftlichen Zugriff total (katatone Form). Wie wir gesehen haben, sind Schizophrene außerordentlich schwer zu manipulieren – sie eignen sich nicht als potentielle Käufer und Käuferinnen, dafür kommen schon eher die Maniker mit ihren teils geblähten Egos in Frage. Von dieser Warte aus betrachtet haben wir es bei der Schizophrenie mit einem Versuch zu tun, „echt“ zu bleiben – allerdings vielfach unter Einbuße des aufbauenden sozialen Kontakts und unter der Androhung, schon noch „normalisiert“ zu werden.

So interessant die Wahrnehmung der Schizophrenie vor dem Hintergrund des Kapitalismus allerdings ist – sie ist kaum zu vereinbaren mit dem Umstand, daß Schizophrenie kein ausschließliches Merkmal der westlichen, vom Kapitalismus geprägten Kulturen ist. Vielmehr scheint die Häufigkeit von Schizophrenie in den unterschiedlichen Kulturen ungefähr gleichverteilt zu sein (vgl. etwa Scharfetter 1983). Angesichts dieser Beobachtungen hätten Deleuze und Guattari eher die Rolle umschrieben, welche Schizophrenie im Kapitalismus spielt, als daß sie eine leistungsfähige, praxisrelevante Erklärung des Syndroms geboten hätten. Gilligans Positionen hingegen lassen sich verwenden, auch wenn man die Erkenntnis berücksichtigt, daß Schizophrenie kein kapitalismus-typisches Phänomen ist. Er entwirft nämlich eine Theorie, welche moderne Menschen grundsätzlich betreffen kann, insoweit sie der Manipulation anderer ausgesetzt und ihrem eigenen Wurzelgrund entfremdet sind. Diese Erkenntnis läßt sich zwar nicht als Erklärung der schizophrenen Störung, wohl aber zur Ableitung von Behandlungsansätzen für einzelne Betroffene verwenden.

Gilligans Theorie nähert sich außerdem in Teilen den Positionen der sogenannten „transpersonalen Psychologie“ an, in deren Verständnis ein großer Teil der als schizophren Diagnostizierten unter spirituellen Krisen leidet. Insbesondere wird diese Zone dort berührt, wo Gilligan ausführt, daß sich hinter dem vordergründigen Ich-Bewußtsein des Menschen etwas befinde, was mehr sei, als bloß ein weiterer Teil des Individuums, vielmehr ein Stück Kosmos, eine Art „Welt-Atem“, um es versuchsweise in eine poetische Metapher zu kleiden. Tatsächlich ist Gilligans erklärtes Ziel, Lebenserfahrungen wieder zu poetisieren, ohne dabei aber sentimental zu werden (vgl. Gilligan 1996). Dies korrespondiert auch mit unserer obigen Position, nach der das Schizophrene dem Poetischen nahe verwandt ist.

Jenes „Andere“, welches Gilligan im Menschen wahrnimmt, kann nach seinen Worten unterschiedlich benannt werden – Seele, innerstes Selbst, Zentrum oder immer wie. Entscheidend ist, daß es eine Berührungszone mit dem Leben als Ganzem darstellt – mit den Gesetzen des Lebens, wenn man so will, welche dem Tier unüberhörbar sind und im Menschen durch falsche Einflüsterungen oft zu verminderter Wertigkeit gelangen. Gilligan definiert es als „a center through which every psychological form moves“. Eine Station, welche mit allem Wesentlichen Berührung hat, das Nieder mit dem Höheren verbindet – vor allem aber eine Station, welche weiß, besser weiß als das aufgeblasene, bloß der Sozialisation mit allen ihren Banalitäten verhafteten Ego.

Auf dies „Andere“ im Menschen würden wir uns beziehen, wo wir von „Selbstwissen“ sprächen. Ihm würden wir zuhören und seine Intentionen zu begreifen versuchen. Folgen wir dieser Maxime, so werden wir in erster Linie als Mitmenschen gefordert sein, werden Therapeuten sein bloß noch als, wie ich es einmal von einer Kollegin gehört habe, „Person mit einer Kompetenz mehr“.

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