II. Schizophrenie als kreativer Ausnahmezustand
Daß schizophrenen Gehirnen außergewöhnliche Leistungen entspringen können, das wissen wir spätestens seit Friedrich Hölderlin, von dem Navratil (1994) sicher annimmt, er sei schizophren gewesen. Auch Jakob von Hoddis, der sein berühmtes Gedicht „Weltende“ mit der spöttischen Zeile begann: „Dem Bürger fliegt vom Kopf der spitze Hut“, war schizophren. Gottfried Benn hat in seinem Aufsatz „Genie und Gesundheit“ aufgezählt, welche bedeutenden Künstler und Wissenschaftler nachweislich unter Schizophrenie „litten“; neben Hölderlin nennt er van Gogh, Tasso, Panizza, Newton und Strindberg (vgl. Benn 1989). Auch C.G. Jung ist gelegentlich unterstellt worden, er habe psychotische Episoden gehabt. Stern (1977) glaubt sogar, daß das gesamte Jung´sche Werk sich einem lebenslangen Kampf mit der Schizophrenie verdanke.
Wem Hölderlin zu betagt, von Hoddis unbekannt, Benn zu pathetisch und Jung zu esoterisch ist, der wird vielleicht an einem Satz David Bowies gefallen finden, der aus der Sicht eines Kreativen denselben Prozeß beschreibt, den Bleuler klinisch erfaßte: „Ich habe keine Probleme damit, alles miteinander zu verbinden. Frustrierend ist nur, daß ich immer annehme, daß alle anderen das auch tun. Das, was die Leute an mir immer so „prätentiös“ finden – das ist mein Lebenselixier! Ich kann ohne diese Spiegel meiner Existenz nicht leben.“ (Bowie 1997, S. 25). Mit dieser Äußerung können wir eine von Leo Navratil legieren, der einen gewaltigen Teil seines Lebenswerks dem Zusammenhang von Kreativität und schizophrener Symptomatik gewidmet hat. Er schreibt ein wenig süffisant: „Die Psychose führt zu einem Ausbruch von Kreativität. Aber auch Normalität und Kreativität schließen einander nicht aus. Man muß allerdings die Normalität ein wenig verlassen, um kreativ zu sein.“ (Navratil 1982, S. 591).
Es genügt, die Normalität um ein Weniges zu verlassen, um sich nicht mehr zurecht zu finden. In Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ (1963) scheint dem Mädchen vieles vertraut zu sein und ist doch ganz anders. Geburtstage etwa sind auch dort bekannt, lieber aber feiert man den „Nicht-Geburtstag“, den man 364-mal im Jahr hat. Hingegen erscheint das völlig Bizarre, das Alice verstört – z.B. eine Wasserpfeife rauchende Raupe – den Bewohnern des Wunderlands völlig normal, und sie sind empört über Alices „realistischen Hochmut“.
Hochmut aufgrund unserer „realistischen“ Haltung ist also die Falle, in die wir tappen können, wo wir mit Schizophrenen arbeiten. Besser, wir arbeiten mit ihnen wie mit Künstlern, bei denen wir auch nicht beständig nach dem Sinn fragen – jedenfalls nicht, wenn wir Zugang zur Kunst haben. Die schizophrene Wahnwelt läßt sich leichter erschließen, wenn wir uns ihr vom Künstlerischen her nähern. Tatsächlich erkennen wir künstlerische Verfahren, ja, die Kunstgeschichte wieder in der Weise, in welcher Schizophrene die Welt wiedergeben. Ein Teil wird übersteigert „dargestellt“, verzerrt und grell koloriert wie bei den Expressionisten, manche Wirklichkeit wird gewissermaßen in Vierecke zerlegt und verschoben wie beim analytischen Kubismus, schließlich wird manches nur noch zeichenhaft angedeutet, hingehaucht und auf das Allerwesentlichste reduziert wie eine Skizze von Rodin.